Barrierefreiheit lässt sich nicht allein am Schreibtisch mit Listen von Normen entwickeln. Sie entsteht erst, wenn Menschen mit Behinderungen selbst an der Gestaltung und Erprobung beteiligt sind.
Das wirft für viele KMUs fragen auf:
Wie findet man geeignete Testpersonen?
Wie gestaltet man Tests fair, respektvoll und praxisnah?
Und worauf sollte man achten, wenn man erstmals Nutzende mit unterschiedlichen Fähigkeiten einlädt?
Dieser Beitrag gibt Leitlinien für positives Recruiting von Testpersonen mit Behinderungen für KMUs
1. Von der Pflicht zur Partnerschaft
Das BFSG ist kein reines Compliance-Thema. Es bietet die Chance, digitale Angebote kundenfreundlicher und inklusiver zu gestalten. Wer Barrieren abbaut, erschließt neue Zielgruppen. Damit Inklusion gelingt, sollten Unternehmen Menschen mit Behinderungen als Partner:innen einbeziehen. Testende sollten als fachkundig über ihren eigenen Alltag angesehen werden. Ihre Rückmeldungen zeigen, wo Produkte wirklich alltagstauglich sind.
2. Wen sucht man eigentlich?
Ein häufiger Fehler ist es nur nach Diagnosen zu fragen. Der Alltag von Menschen “mit Autismus” kann hochgradig variieren. Daher bietet es sich an nach Nutzererfahrungen zu fragen wie zum Beispiel: “Wir suchen Personen, die regelmäßig mit Screen-Readern arbeiten” oder “Wir möchten mit Menschen sprechen, die Schwierigkeiten mit kleinen Schriftgrößen haben.”
Auch beim Ansprechen von Netzwerken kann dies genutzt werden. Egal ob lokale Behindertenverbände oder Webplattformen für Online-Tests wie Fable oder Prolific, überall kann das fokussieren auf Fähigkeiten hilfreich sein.
3. Vertrauen schaffen
Menschen mit Behinderungen werden im Alltag oft aufgefordert, ihre Situation zu belegen. Für Tests ist das weder nötig noch hilfreich. Setzen Sie stattdessen auf Selbstauskunft und Vertrauen. Fragen Sie nach Erfahrungen und genutzten Hilfsmitteln, nicht nach medizinischen Diagnosen. Dies ist auch in Fällen relevant wo eine Diagnose zum Beispiel durch fehlende Ärzte noch aussteht. Vertrauen Sie darauf, dass Ihre Nutzenden ihre eigenen Erfahrungen einordnen können.
Kommunizieren Sie auch offen:
- Wofür werden die Ergebnisse genutzt?
- Wie lange dauert der Test und was können die Teilnehmenden als Gegenleistung erwarten?
- Welche Unterstützung wird angeboten?
- Welche Erfahrungen hat das Team mit der Zielgruppe?
4. Faire Vergütung
Wie eben in der Frageliste angedeutet ist auch die Vergütung ein sehr relevantes Thema.
Menschen mit Behinderungen bringen wertvolle Expertise ein, denn sie testen aus der Perspektive realer Nutzungssituationen. Diese Arbeit sollte angemessen vergütet werden. Empfehlenswert sind marktübliche Honorare selbstverständlich auch auf diese Zielgruppe anzuwenden. Gutscheine oder Spenden an Partnerorganisationen können Alternativen sein, wenn direkte Zahlungen nicht möglich sind sollten aber rechtlich geprüft werden.
5. Vielfalt bewusst gestalten
Repräsentative Vielfalt ist für den Mittelstand nicht immer leicht umzusetzen, aber sie lohnt sich. Schon wenige Perspektiven können aufzeigen, wo Barrieren bestehen. Wählen Sie daher bewusst unterschiedliche Personengruppen aus (z. B. Nutzende mit Sehbehinderung, motorischer Einschränkung und ältere Personen). Dabei ist immer zu berücksichtigen, dass zum Beispiel keine Person mit einer Sehbehinderung alle Personen mit Sehbehinderung vertreten kann. Einschätzungen und Bedürfnisse sind divers und sollten zur Not in weiteren Tests validiert werden.
6. Sensibilisierung im Team
Wer Nutzende mit Behinderungen einlädt, sollte das eigene Team vorbereiten. Kurze Schulungen zu inklusivem Umgang, barrierefreien Kommunikationsformen oder Assistenzbedarf schaffen Sicherheit.
Kleine Gesten machen den Unterschied:
barrierefreie Räumlichkeiten, gut lesbare Materialien, digitale Varianten für analoge Elemente, Wasser für Begleithunde oder eine klare Sprache bei Instruktionen.
Diese Achtsamkeit stärkt nicht nur das Vertrauen, sondern das gesamte Testklima. Dokumentieren Sie auch neu festgestellte Unterstützungsmöglichkeiten für künftige Tests.
Wer Menschen mit Behinderungen früh in Entwicklungsprozesse einbindet, verbessert die Qualität seiner Produkte, stärkt Kundennähe und beweist gesellschaftliche Verantwortung. Alles beginnt mit der Frage:
“Wer kann uns helfen, unsere Produkte für alle besser zu machen?”
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Kontakt
Adrian Wegener
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