Digitale Assistive Technologien sind längst nicht mehr nur Speziallösungen. Viele davon sind mittlerweile im Alltag und der breiten Masse angekommen und werden sowohl von Menschen mit Behinderungen als auch von einer breiteren Nutzer*innenschaft verwendet (Beispiel SMS oder Untertitel). Wer digitale Produkte und Services entwickelt, sollte diese Vielfalt kennen: Denn nur so lassen sich barrierefreie Angebote schaffen, die echte Teilhabe ermöglichen. Wir führen hier eine Auswahl an weniger bekannten Assistiven Technologien auf, um Ansatzpunkte für weitere Nachforschungen zu geben. Die beschriebenen Zielgruppen sind nicht vollumfänglich, das heißt die Technologien werden durchaus auch von anderen Personengruppen verwendet.
1. Objekterkennungs-Apps (Mensch oder KI)
Zielgruppe: Menschen mit Sehbeeinträchtigungen, aber auch Nutzende, die sich über Fachthemen informieren wollen.
Beschreibung: Apps wie Be My Eyes [1] helfen dabei Objekte, Texte oder Szenen zu erkennen. Das passiert entweder mithilfe von Freiwilligen oder durch KI.
Einfluss: Sie erweitern das Informationsspektrum für Nutzende, die visuelle Details sonst nicht wahrnehmen könnten, und machen digitale wie physische Umgebungen zugänglicher. Trotzdem bedeutet die Verwendung solcher Technologien meist, dass eine längere Interaktionszeit nötig ist.
2. Sprachgesteuerte Steuerung und Speech-to-Text
Zielgruppe: Menschen mit motorischen / kognitiven Beeinträchtigungen, Legasthenie, oder Sehbeeinträchtigungen.
Beschreibung: Sprachassistenten (Alexa, Siri) oder Diktierfunktionen [2, 3] setzen Sprache in Befehle oder Text um.
Einfluss: Reduziert den Schreib- und Bedienaufwand und ermöglicht eine schnelle, freihändige Interaktion mit digitalen Geräten. Fachbegriffe, Namen, oder ähnliches, werden potentiell nicht erkannt. Kann aber auch die Komplexität eines visuellen User Interfaces ausblenden.
3. Augmentative and Alternative Communication (AAC)
Zielgruppe: Menschen mit eingeschränkter Sprechfähigkeit.
Beschreibung: Symbol- und Text-Apps [4] ermöglichen Kommunikation über Touch, Blick oder vorgefertigte Ausdrücke.
Einfluss: Eröffnet neue Kommunikationskanäle und erleichtert Teilhabe in Alltag und Beruf. Sind häufig aber langsam in der Bedienung oder beschränkt auf vordefinierte Auswahlmöglichkeiten.
4. Augensteuerung
Zielgruppe: Menschen, die Hände oder Stimme nicht zur Bedienung nutzen können.
Beschreibung: Mit Blicksteuerung lässt sich der Mauszeiger oder die Tastatur durch Augenbewegungen steuern [5].
Einfluss: Macht digitale Systeme ohne physische manipulation nutzbar, aber benötigt potentiell größere Trefferflächen. Hoverelemente oder Drag-and-Drop Elemente können potentiell frustrierend werden.
5. Bildschirmlupe
Zielgruppe: Menschen mit Sehbeeinträchtigungen, aber auch Nutzende mit Aufmerksamkeitsproblemen.
Beschreibung: Software zoomt Ausschnitte des Bildschirms heran [6].
Einfluss: Erhöht Lesbarkeit und Fokus, reduziert visuelle Ablenkungen und macht Inhalte für verschiedene Bedürfnisse zugänglich.
6. Auto Fill / Auto Complete / Auto Correct
Zielgruppe: Menschen mit motorischen / kognitiven Einschränkungen, oder Legasthenie.
Beschreibung: Automatisches Ausfüllen von Formularen, Vorhersagen beim Tippen oder Rechtschreibkorrekturen. Wird häufig auch in Kombination mit anderen Assistiven Technologien verwendet.
Einfluss: Spart Zeit (oder gleich Verlangsamung durch andere Technologien aus), verringert Fehleranfälligkeit und entlastet kognitive wie motorische Prozesse.
7. Digitales Lineal (Reading Ruler)
Zielgruppe: Menschen mit Dyslexie, Konzentrationsschwierigkeiten oder hoher visueller Belastung.
Beschreibung: Digitale Fokuslinien [7] oder farbige Overlays helfen, Textzeilen einzeln zu verfolgen, ähnlich einem Lineal auf Papier.
Einfluss: Strukturiert den Lesefluss, reduziert Ablenkung und erhöht Textverständnis. Blendet aber potentielle andere wichtige Elemente auf einer Webseite aus.
8. Schalter (mit Switch Access Scanning)
Zielgruppe: Menschen mit starken motorischen Einschränkungen.
Beschreibung: Mit einem oder wenigen Tastern können Menüs Schritt für Schritt durchlaufen und Befehle ausgewählt werden [8].
Einfluss: Ermöglicht vollständige Computer- oder Gerätebedienung auch ohne Maus und Tastatur. Leider aber ein sehr langsamer Process, der zum Beispiel auch Dinge wie Tastenkombinationen sehr umständlich macht.
9. Noise-Cancelling-Kopfhörer
Zielgruppe: Menschen mit Hörbeeinträchtigung, Neurodiversiäten wie ADHS oder in lauten Arbeitsumgebungen.
Beschreibung: Elektronische Filter blenden Umgebungsgeräusche aus.
Einfluss: Fördert Konzentration, reduziert Stress und verbessert die Verarbeitung von Sprache und Informationen.
10. Bildschirmlesegerät (Screen Reader) – Darf auf so einer Liste natürlich nicht fehlen.
Zielgruppe: Menschen mit Sehbeeinträchtigungen.
Beschreibung: Liest Bildschirmtexte und -strukturen per Sprachausgabe [9, 10] oder Braille aus.
Einfluss: Macht digitale Inhalte auditiv zugänglich.
Und was heißt das nun für Sie?
Es ist kein Muss, den Umgang mit all diesen Systemen zu erlernen. Wichtig ist vielmehr, Nutzerstudien so aufzubauen, dass Menschen mit dieser Vielfalt an Technologien beteiligt sind. Nur so werden digitale Produkte und Services entwickelt, die reale Anforderungen und Nutzungssituationen widerspiegeln, und damit wirklich barrierefrei werden können.
[1] https://www.bemyeyes.com/
[2] https://support.microsoft.com/de-de/windows/verwenden-sie-die-spracheingabe-zum-sprechen-anstatt-auf-ihrem-pc-zu-schreiben-fec94565-c4bd-329d-e59a-af033fa5689f
[3] https://support.apple.com/de-de/guide/mac-help/mh40584/mac
[4] https://touchchatapp.com/
[5] https://support.microsoft.com/de-de/windows/erste-schritte-mit-der-augensteuerung-in-windows-1a170a20-1083-2452-8f42-17a7d4fe89a9
[6] https://support.microsoft.com/de-de/windows/verwenden-der-bildschirmlupe-um-dinge-auf-dem-bildschirm-besser-sehen-zu-k%C3%B6nnen-414948ba-8b1c-d3bd-8615-0e5e32204198
[7] https://www.helperbird.com/features/ruler/
[8] https://en.wikipedia.org/wiki/Switch_access_scanning
[9] https://www.nvaccess.org/
[10] https://support.apple.com/de-de/guide/voiceover/vo2682/mac
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Adrian Wegener
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