In der öffentlichen Diskussion rund um Digitalisierung und den Einsatz generativer KI stehen meist Produktivität, Effizienz und Automatisierung im Vordergrund. Unternehmen hoffen auf Zeitersparnis, Kostensenkung und Skalierung. Was dabei oft unbeachtet bleibt: Der technologische Wandel wirkt nicht nur auf Prozesse, sondern auch auf das psychische Erleben und Verhalten von Mitarbeitenden. Wie verändert sich Motivation, wenn Maschinen Entscheidungen vorbereiten? Was bedeutet es für das Wohlbefinden, wenn digitale Tools permanent neue Anforderungen stellen? Und welche Verantwortung tragen Organisationen in dieser neuen Arbeitsrealität?
Digitale Technologien und psychisches Erleben: eine stille Verschiebung
Digitale Tools und insbesondere KI-gestützte Systeme greifen tief in die Art und Weise ein, wie Menschen arbeiten, kommunizieren und sich selbst erleben. Die Grenzen zwischen Mensch und Maschine, zwischen eigener Kompetenz und algorithmischer Unterstützung, werden zunehmend unscharf. In dieser Entwicklung steckt Potenzial – aber auch Risiko.
Während viele Unternehmen mit großem Tempo technologische Systeme einführen, zeigen Studien zur digitalen Erschöpfung, dass Mitarbeitende häufig unter einer zunehmenden mentalen Daueranspannung stehen. Informationsflut, ständige Erreichbarkeit, wechselnde Tools und eine diffuse Erwartung an „digitale Souveränität“ führen nicht selten zu dem, was Forscher*innen als „Technostress“ oder „digitale Überforderung“ beschreiben. Die Symptome reichen von Motivationsverlust und innerer Kündigung bis zu Erschöpfung und psychosomatischen Beschwerden.
Diese Entwicklungen verlaufen meist schleichend – und bleiben damit lange unsichtbar. Sie sind nicht unmittelbar in Kennzahlen ablesbar, zeigen sich aber im Verlust von Innovationskraft, erhöhter Fluktuation und einem steigenden Bedarf an individueller Unterstützung.
Wohlbefinden als systemischer Erfolgsfaktor
Psychisches Wohlbefinden ist längst kein „weiches“ Thema mehr, sondern eine strategische Notwendigkeit. Es geht nicht nur um individuelle Resilienz oder Selbstfürsorge, sondern um die Gestaltung gesunder Systeme. Unternehmen, die langfristig anpassungsfähig, innovativ und attraktiv bleiben wollen, müssen den Zusammenhang zwischen Technologieeinführung und psychischer Gesundheit systematisch betrachten.
Drei Faktoren spielen dabei eine Schlüsselrolle:
1. Psychologische Sicherheit: Mitarbeitende brauchen Räume, in denen sie Unsicherheit ausdrücken, Fragen stellen oder auch Widerstand äußern dürfen – ohne negative Konsequenzen befürchten zu müssen. Gerade im Umgang mit neuen Technologien ist diese Sicherheit entscheidend: Nur wer sich sicher fühlt, kann offen mit Herausforderungen umgehen, aus Fehlern lernen und sich weiterentwickeln.
2. Selbstwirksamkeit und Autonomie: Automatisierung darf nicht dazu führen, dass Menschen sich entmündigt oder ersetzt fühlen. Motivation entsteht, wenn Mitarbeitende erleben, dass sie Einfluss auf Entscheidungen haben, Verantwortung tragen und sich mit ihren Fähigkeiten einbringen können.
3. Sinn und Zugehörigkeit: Die Einführung neuer Technologien muss in einen Sinnzusammenhang eingebettet sein. Wenn Arbeit zunehmend von digitalen Systemen mitgestaltet wird, brauchen Menschen Orientierung: Warum machen wir das? Welche Rolle spiele ich? Wie hängt meine Tätigkeit mit dem größeren Ganzen zusammen?
Was Führung heute leisten muss
Die Rolle von Führung verändert sich im Zeitalter der KI fundamental. Es reicht nicht mehr, Ziele zu setzen und Leistung zu messen. Vielmehr geht es darum, einen Rahmen zu schaffen, in dem Menschen gesund, motiviert und verbunden arbeiten können – auch unter unsicheren Bedingungen.
Das bedeutet unter anderem:
- Vertrauen vor Kontrolle: Führung muss psychologische Sicherheit priorisieren – etwa durch transparente Kommunikation, aktives Zuhören und konstruktives Feedback.
- Sinnstiftung: Führungskräfte sind heute mehr denn je gefragt, Bedeutung zu vermitteln – besonders in Zeiten von Wandel und Komplexität.
- Vorleben von Selbstführung: Wer als Führungskraft emotionale Klarheit und reflektierte Entscheidungen vorlebt, stärkt das Team und schafft Stabilität.
Dabei darf man nicht vergessen: Auch Führungskräfte selbst sind betroffen vom digitalen Wandel – sie erleben denselben Druck, dieselbe Unsicherheit und die gleichen Überforderungen. Umso wichtiger ist es, sie gezielt zu unterstützen, z. B. durch Coaching, Supervision oder peer-gestützte Formate.
Die Rolle von UX-Design und Produktentwicklung
Während Führung den kulturellen Rahmen setzt, entscheiden UX- und Produktteams maßgeblich darüber, wie sich Technologie anfühlt. Menschzentrierte Gestaltung ist kein „nice to have“, sondern ein wesentlicher Hebel zur Förderung von Wohlbefinden.
Das beginnt bei der Nutzerführung durch komplexe Systeme und reicht bis hin zur Vermeidung kognitiver Überlastung durch Informationsgestaltung. Auch die Frage, wie viel Transparenz ein KI-System bietet oder wie intuitiv Nutzer*innen mit der Technologie interagieren können, beeinflusst das Stresserleben unmittelbar.
UX-Teams tragen somit Verantwortung dafür, dass digitale Lösungen nicht nur funktionieren, sondern sich auch verträglich in den Arbeitsalltag integrieren lassen. Dazu gehört, dass User nicht nur „Klickwege“ verstehen, sondern auch den Zweck und die Auswirkungen ihrer digitalen Handlungen nachvollziehen können.
Was Organisationen konkret tun können
Unternehmen, die das Thema nicht dem Zufall überlassen wollen, können an mehreren Stellen aktiv werden:
- Technologieeinführung als Kulturprozess begreifen: KI sollte nicht als rein technisches Projekt, sondern als Veränderungsprozess mit sozialer Dimension verstanden werden.
- Regelmäßige psychologische Check-ins etablieren: Stimmungen, Belastungen und Bedürfnisse lassen sich durch kurze, fundierte Pulsbefragungen systematisch erfassen – und daraus können frühzeitig Maßnahmen abgeleitet werden.
- Interdisziplinäre Teams bilden: UX, HR, IT und Führung sollten gemeinsam gestalten – etwa in Co-Creation-Formaten, in denen die Perspektive der Nutzer*innen ernst genommen wird.
- Experimentierräume schaffen: Pilotprojekte, Labs oder geschützte Experimentierräume ermöglichen es, mit neuen Technologien zu arbeiten, ohne sofort perfekte Lösungen liefern zu müssen.
- Führungskräfte gezielt qualifizieren: Schulungen in Emotionsregulation, digitaler Kommunikation und Unsicherheitsmanagement stärken die persönliche Resilienz – und damit auch die des Teams.
Fazit: Menschlichkeit als Zukunftskompetenz
KI verändert unsere Arbeitswelt – tiefgreifend und unumkehrbar. Ob diese Veränderung als Chance oder als Belastung erlebt wird, entscheidet sich daran, wie bewusst und menschenorientiert Unternehmen handeln. Psychisches Wohlbefinden ist kein Nebenschauplatz, sondern wird zum Kernbestandteil zukunftsfähiger Organisationen.
Wer heute in Technologie investiert, muss auch in Menschen investieren – und in die Gestaltung von Arbeit, die nicht nur effizient, sondern auch menschlich, sinnhaft und nachhaltig ist.
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