Im digitalen Raum gibt es zahlreiche Barrieren: Websites funktionieren nicht mobil, Inhalte können nicht von Screenreadern vorgelesen werden. Die Navigation nur mit der Tastatur ist schwierig. Die Schrift ist zu klein oder Farben können nicht voneinander unterschieden werden. Das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz soll das ändern. Besonders stark betroffen: die IT-Branche. Diese Analyse zeigt, wie sie im Mai 2025 über das Gesetz und über Barrierefreiheit spricht.
Problemloser Zugang zum Web für alle. Das will das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG): Seit dem 28. Juni 2025 verpflichtet es Unternehmen in Deutschland dazu, digitale Angebote barrierefrei zu gestalten. Anlass genug, um zu analysieren, wie die IT-Branche über das Gesetz und die weiteren Facetten der Barrierefreiheit spricht. Mithilfe eines Webcrawlers wurden Websites deutscher Unternehmen vom anbieterneutralen Mittelstand-Digital Zentrum Fokus Mensch analysiert und Einblicke in den Stand vom Mai 2025 um die Diskussion zur digitalen Barrierefreiheit gewonnen.
Veranstaltungshinweis
Haben Sie Interesse, einen Einblick in aktuelle Trends zu erhalten? Dann kommen Sie zur Offenen Feldanalyse. Dort analysieren Sie gemeinem mit einem Experten unseres Teams, welche Themen für Sie relevant sind und wie sich diese im Feld zeigen.
Wie sind die Ergebnisse der Analyse einzuordnen? Warum ist Barrierefreiheit so ein wichtiges Thema? Dafür haben wir mit dem Barrierefreiheitsexperten Adrian Wegener gesprochen.
Von besserer Barrierefreiheit profitieren alle Nutzer:innen, so Wegener. Denn barrierefreie Produkte und Dienstleistungen sind nicht nur für Menschen mit Behinderungen besser nutzbar, sondern erhöhen insgesamt die Nutzerfreundlichkeit, fördern gesellschaftliche Teilhabe und vergrößern den potenziellen Markt. Im Vergleich dazu wird der Mehraufwand schnell relativiert.
Unsere Daten belegen, dass Barrierefreiheit bei PDFs häufig ein Problem darstellt. Das liegt daran, erklärt Wegener, dass dieses Format in der Regel nur durch aufwändige manuelle Nachbearbeitung (oft durch Expert:innen) barrierefrei gemacht werden kann. Eine mögliche Lösung sei, möglichst viele Inhalte ins Web zu verlagern, wo Barrierefreiheit deutlich einfacher umsetzbar ist.
Dass Barrierefreiheit und Gaming „zusammen gedacht“ wird, wundert Wegener nicht. Denn Gaming zählt heute zu den beliebtesten Freizeitbeschäftigungen weltweit und erreicht einen riesigen Markt mit Millionen von Spieler:innen. Daher sei es nicht überraschend, dass auch die rund 16 % der Weltbevölkerung mit schweren Behinderungen daran teilhaben möchten – und zwar gleichberechtigt.
Der Einsatz von Künstlicher Intelligenz und Automatisierung für Barrierefreiheit werde hingegen unter Expert:innen intensiv diskutiert. Grundsätzlich gilt: Solche Technologien böten oft nur Teillösungen. Wirklich gute Ergebnisse entstünden meist erst durch die Kombination von KI mit menschlicher Expertise und gezielter manueller Arbeit.
Zusammenfassend wird es spannend sein, zu beobachten, wie der Mittelstand auf die Einführung des Barrierefreiheitsstärkungsgesetzes (BFSG) reagiert. Öffentlich ist dazu bislang wenig sichtbar, obwohl viele Unternehmen im Hintergrund bereits intensiv an der Umsetzung arbeiten und das Thema Barrierefreiheit im Feld stark verankert ist. Die Barrierefreiheit selbst ist nicht nur ein technisches Thema, sondern bezieht sich auf eine digitale Teilhabe, die vielen zugutekommt. Eine Gegenüberstellung von Gaming und Teilhabe zeigt, dass der gesellschaftliche Aspekt von Barrierefreiheit im Gaming angekommen ist. Es wird nicht zuletzt interessant sein, zu beobachten, ob sich die Diskussion von KI und Barrierefreiheit ebenfalls noch stärker auf gesellschaftliche Teilhabe fokussieren wird.
Die Autorinnen und Autoren
Adrian Wegener
- Karlsruher Institut für Technologie
- Mittelstand 4.0-Kompetenzzentrum Usability
- Mittelstand-Digital Zentrum Fokus Mensch
- Kaiserstraße 89-93
- 76133 Karlsruhe
Theoretischer Hintergrund und Methodik
Was ist ein organisationales Feld?
In der Organisationsforschung kam die Beobachtung auf, dass Organisationen mit der Zeit einander immer ähnlicher werden. Auf der Suche nach Erklärungen prägten DiMaggio & Powell (1983) das Konzept des organisationalen Feldes. Organisationen in einem solchen Feld bilden eine Gemeinschaft, interagieren öfter miteinander und teilen Normen, eine ähnliche Sprache sowie ein allgemeines Verständnis. Ein organisationales Feld bildet sich aus, wenn die Mitglieder zunehmend stärker miteinander interagieren oder sich gegenseitig wahrnehmen. Es gibt dominante Organisationen, die besonders gut vernetzt sind und mit anderen Organisationen bevorzugt zusammenarbeiten So bilden sich Koalitionen zwischen den Organisationen.
Dadurch kann man analysieren, welche Organisationen wichtig sind und die Entwicklung eines Feldes beeinflussen, undr welche Organisationen versuchen, bestehende im Feld etablierte Organisationen herauszufordern.
Wie kann man ein organisationales Feld rekonstruieren?
Eine Möglichkeit, ein organisationales Feld zu rekonstruieren, ist die Analyse von Websites der Organisationen, wie Powell & Oberg (2017) beschreiben. Auf Websites verlinken Organisationen andere Organisationen. Folgt man diesen Hyperlinks, dann ergibt sich ein Netzwerk von Organisationen. Nimmt man bei diesem Netzwerk nur die Organisationen und Links, die sich gegenseitig verlinken, ergibt dieses Netzwerk das organisationale Feld. Wird eine Organisation besonders oft verlinkt, dann kann diese Organisation sehr wichtig sein und eine hohe Reputation genießen. Verlinkt wiederum eine Organisation eine andere, dann kann sie dadurch zum Ausdruck bringen, ähnliche Ziele wie diese zu verfolgen. Verlinken sich zwei Organisationen gegenseitig, dann heißt es, dass sie sich gegenseitig wahrnehmen und sich als Akteure im Feld anerkennen. Sie verschaffen sich gegenseitig eine der wichtigsten Ressourcen, nämlich Aufmerksamkeit.
Was sagen Websites über eine Organisation aus?
Websites erfassen nicht nur, wer wen verlinkt. Sie zeigen die Themen an, die diskutiert werden. Welche Schlagwörter aktuell sind, um wahrgenommen zu werden. Oberg, Powell & Schöllhorn (2022) sprechen in diesem Zusammenhang von Selbstrepräsentationen der Organisationen. Selbstrepräsentation bedeutet, dass sich Organisationen bewusst im Vergleich zu anderen Organisationen auf ihren Websites positionieren. Sie beweisen damit, dass sie auf aktuelle Diskurse reagieren und diese in ihre Außendarstellung integrieren können. Das ist wichtig, um durch diese Anpassungsfähigkeit Legitimität im Feld zu erhalten. Etwa, um gegenüber Kunden wettbewerbsfähig zu wirken. Oder gegenüber Investoren als technologisch up-to-date zu erscheinen. Darüber hinaus geben sie für den Beobachter noch mehr preis. Ob ein Unternehmen oder eine Organisation überhaupt auf aktuelle Trends oder Themen reagiert, ist bereits spannend: Kann es nicht oder muss es nicht reagieren? Und wenn es ein Thema aufgreift, werden dann wichtige Konzepte verändert und uminterpretiert? Selbstrepräsentation wird dann eine Fähigkeit, die nicht alle Organisationen gleichermaßen teilen (müssen). Das ist vor allem in organisationalen Feldern wichtig, in denen neue Mitglieder hinzukommen, sich die Beziehungen und Verlinkungen zwischen den Organisationen verändern und durch die Konstellationen des Feldes immer wieder neue Themen auftauchen. Ob eine Organisation tatsächlich umsetzt, was sie verspricht, ist eine andere Frage. Das öffentliche Auseinandersetzen ist aber zumindest eine wichtige Vorstufe.
Woher stammen die Daten?
Die Daten stammen aus dem Web-Monitoring der deutschen Softwarebranche, das an der Universität Hamburg für das Mittelstand-Digital Zentrum Fokus Mensch durchgeführt wird. Die Universität Hamburg und das Mittelstand-Digital Zentrum Fokus Mensch agieren dabei anbieterneutral.
Wie sind die Daten zu interpretieren?
Die Trefferanzahl bezieht sich auf die Anzahl von Dokumenten, in denen der Suchbegriff mindestens einmal erwähnt wird. Das Fehlen von Treffern kann technische Gründe haben. Etwa, weil die Website nicht vollständig erfasst wurde. Auch hängt von der konkreten Fragestellung ab, welche Organisationen relevant sind. Websites mit einer großen Trefferanzahl sind meist Foren oder Blogs, weil diese viele Unterseiten haben. Auf diesen liegt jedoch nicht automatisch der Fokus der Analyse. Das Hervorheben einer Organisationen begründet sich deshalb aus der Trefferanzahl und der spezifischen Fragestellung. Die Kreisgröße ist in der Darstellung log-Skaliert.
Literatur
DiMaggio, Paul J., und Walter W. Powell. 1983. „The Iron Cage Revisited: Institutional Isomorphism and Collective Rationality in Organizational Fields“. American Sociological Review 48 (2): 147. https://doi.org/10.2307/2095101.
Kastl, Jörg Michael. 2017. Einführung in die Soziologie der Behinderung. Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-04053-6
Oberg, Achim, Walter W. Powell, und Tino Schöllhorn. 2022. „Representations of Self in the Digital Public Sphere: The Field of Social Impact Analyzed Through Relational and Discursive Moves“. In Research in the Sociology of Organizations, herausgegeben von Thomas Gegenhuber, Danielle Logue, C.R. (Bob) Hinings, und Michael Barrett, 167–96. Emerald Publishing Limited. https://doi.org/10.1108/S0733-558X20220000083007.
Powell, Walter W., und Achim Oberg. 2017. „Networks and Institutions“. In The SAGE Handbook of Organizational Institutionalism, herausgegeben von Royston Greenwood, Renate E. Meyer, und Thomas B. Lawrence, 446–73. SAGE Publications Ltd. https://www.torrossa.com/en/resources/an/5018766.